"Nur erneuerbare Energien sichern Frieden"

In der gegenwärtigen Energiekrise, aber auch wegen der Taxonomie der EU, sind Atomkraft, Kohle oder Flüssiggas wieder stärker im Gespräch. Deutschlands bekannteste Energie-Expertin Claudia Kemfert hält solche Ideen für einen Irrweg. Die Professorin fordert im Gespräch mit fondsmagazin vielmehr noch größere Anstrengungen für eine nachhaltige Energiewende. Auch die Geldanlage biete da gute Möglichkeiten.

Statt Energiewende redet Deutschland von der Energiekrise. Rechnen Sie auch damit, im kommenden Herbst im dicken Pullover im Büro oder daheim sitzen zu müssen?

Russland hat an dem Tag, als es die Ukraine überfiel, den fossilen Energiekrieg entfesselt. Seitdem müssen wir damit rechnen, dass Russland Deutschland den Energiehahn abdreht. Um eine Mangellage zu vermeiden, sollten wir die sogenannte ASSA-Formel anwenden.

Was ist das?

Erstens: A wie Ausweichen, nämlich aus anderen Ländern fossiles Erdgas beziehen. Eine Diversifikation der Energiebezüge ist zentral. Zweitens Sparen. Das ist enorm wichtig. Jede Energie, die nicht verbraucht wird, ist wertvoll. Drittens Speichern, und zwar so schnell und so viel wie möglich. Wenn die Speicherstände bis Anfang Herbst auf 90 Prozent steigen, haben wir eine gute Chance, ohne Knappheiten durch den Winter zu kommen. Und viertens Ausbau der erneuerbaren Energien. Auch das braucht endlich größte Entschlossenheit.

Sie fordern schon länger "die konsequente Verfolgung einer zügigen Energiewende". Fühlen Sie sich in Ihrer Kritik an der zögerlichen Umstellung jetzt bestätigt, wo die Russen am Gashahn drehen?

Absolut! Geopolitische Risiken wurden nie ausreichend berücksichtigt. Damit hat sich Deutschland sehr verletzlich gemacht und ist den Aggressionen Russlands nahezu schutzlos ausgeliefert. Das hätte man vermeiden können und müssen, indem man die Energiewende im Land deutlich schneller umgesetzt hätte. Dabei hatten wir alle guten Zutaten bei uns.

Welche?

Der Ausbau der erneuerbaren Energien florierte. Wir hatten viele Unternehmen im Bereich der erneuerbaren Energien und Zulieferer im Land. Anstelle die Erfolgsgeschichte vorzuschreiben, hat man sie zu stark ausgebremst.

Also etwa mit Regularien wie der großen Abstandsregel für Windkraftwerke zur Wohnbebauung - nach deren Einführung in Bayern kaum noch Windkraftanlagen errichtet wurden.

Mit den Konsequenzen müssen wir leider heute leben. Die fossilen Energiepreise explodieren und schaden Wirtschaft und Verbraucher. Schlimmer noch, wir haben über 150 000 wertvolle Beschäftigte in diesem Bereich verloren, uns fehlen Unternehmen, uns fehlen Materialien, uns fehlen Handwerker und Fachkräfte. Der Preis der verschleppten Energiewende ist enorm hoch, ökonomisch, ökologisch, geopolitisch und vor allen Dingen energiewirtschaftlich und letztlich auch demokratisch.

Ein grüner Wirtschaftsminister muss in Katar um Gas betteln, ein liberaler Regierungspartner liebäugelt mit der Verlängerung der Kernkraft-Laufzeiten, die Opposition will zusätzlich auch noch den Klimakiller Kohle länger am Netz lassen. Ist die Energiewende schon am Ende?

Ich hoffe nicht, sondern am Anfang! Die genannten Technologien sind in der Tat von gestern und helfen uns heute gar nicht.

Claudia Kemfert

Energieexpertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (Foto: Thorsten Futh)

Wieso nicht?

Katar kann erst in einigen Jahren Gas liefern und will dies dann über 20 bis 25 Jahre tun. Das widerspricht den Zielen des Klimaschutzes und der Energiewende. Auch die Verlängerung von drei existierenden Atomkraftwerken hilft uns heute nicht weiter. Die Betriebsgenehmigungen sind erloschen; um sie zu erneuern, müsste das Atomgesetz geändert werden. Zudem fehlen Sicherheitsüberprüfungen, Brennelemente und Personal. All das dauert mindestens ein Jahr und hilft uns im Winter nicht. Atomanlagen produzieren nur sechs Prozent des Stroms. Aufwand und Ertrag stehen in keinem Verhältnis. Und es löst nicht unser Wärmeproblem im kommenden Winter. Insbesondere für die Herstellung von Prozesswärme wird man neben Bioenergie auch existierende Kohlekraftwerke kurzfristig stärker nutzen müssen.
Die sind doch noch umweltschädlicher?

Stimmt. Trotzdem kann man den Kohleausstieg bis 2030 umsetzen. Wir müssen bloß dringend Energie sparen und die erneuerbaren Energien schneller ausbauen. Beides wäre ohnehin eine gute Idee und technisch ohne Weiteres möglich.

Gerade hat auch noch das EU-Parlament zugestimmt, Gas und Atomstrom als nachhaltig zu titulieren. Sollten sich da auch Nachhaltigkeitsfonds für diese fossilen Energien öffnen? Oder gerade jetzt Kurs halten?

Unbedingt Kurs halten! Weder fossiles Erdgas noch Atomkraft sind nachhaltig. Das weiß auch die Politik. Beide Technologien bergen enorme finanzielle Risiken. Der Bau von neuen Atomkraftwerken ist sehr teuer und rechnet sich nur mit staatlichen Subventionen. Vom Rückbau der Anlagen und der jahrhundertelangen Einlagerung von Atommüll ganz zu schweigen. Auch Erdgas ist nicht nachhaltig. Bei der Förderung und beim Verbrennen entstehen klimawirksame Treibhausgase.

Also keine Investition mit Zukunft?

Im Gegenteil. Beide Technologien bergen die Gefahren der potenziellen „stranded investments“ (Investitionen, die schlagartig an Wert verlieren. Anm. d. Red) und „stranded assets“ (Vermögenswerte, die schlagartig an Wert verlieren. Anm. d. Red). Daher sollten Nachhaltigkeitsfonds beides meiden und strenge Nachhaltigkeitskriterien anwenden.

Das heißt?

In erneuerbare Energien investieren, in die Elektromobilität, in grünen Wasserstoff, also alle Technologien, die wirklich ernsthaft nachhaltige Technologien sind, die zum Klimaschutz beitragen. Wir müssen so schnell wie möglich weg von fossilen Energien – nicht nur von Russland, sondern insgesamt. Nur erneuerbare Energien sichern Frieden, Freiheit und Wohlstand.

Dänemark stürmt nachhaltig voran

Grafik: KD1

Was wären die besten Hebel, um rasch erneuerbare Energieerzeugung zu forcieren?

Das Ausbautempo der erneuerbaren Energien muss mindestens vervierfacht werden. Uns läuft die Zeit davon.

Wie soll das gehen?

Sehr kurzfristig können existierende Biogasanlagen effizienter ausgelastet werden und, sie hätten zusätzliche Kapazitäten um Strom und Wärme herzustellen. Auch schon in diesem Winter. Auch bereits beantragte und im Genehmigungsprozess fortgeschrittene Windanlagen könnten sofort ans Netz gehen. Ohnehin müssen die Genehmigungsverfahren für Windenergie extrem vereinfacht, entschlackt und beschleunigt werden. Wir benötigen dringend eine konzertierte Aktion und einen Energiewende-Booster, um die Hürden und Engpässe zu vermeiden.
Auch bei der Solarenergie kann es deutlich schneller gehen. Solarenergie gehört auf jedes Dach. Die nun im Osterpaket beschlossenen Maßnahmen gehen insgesamt in die richtige Richtung, aber es fehlt an Tempo. Zum anderen muss man den Menschen das Handeln erleichtern. Klare Prozesse, einfache Genehmigungsverfahren und juristische Klarheit, durch das Ausweisen von ausreichenden Flächen für Windenergie. Zudem bedarf es kluger finanzieller Ausgleichsmaßnehmen.

Wie könnten die aussehen?
Zum Beispiel kann eine Windpark-Kommune vom billigen Strompreis profitieren oder das Schwimmbad oder andere öffentliche Einrichtungen von den Einnahmen bezahlen. Wenn ein echter Mehrwert sichtbar ist, sind die Menschen gern dabei.

Sie betonen, dass der Ausbau erneuerbarer Energien sogar preissenkend wirken kann. Wie soll das gehen – Windparks, Wasserstoffwirtschaft oder neue Stromtrassen sind doch extrem teuer?

Man darf nicht vergessen, dass mit steigender Nachfrage die Kosten der Technologien kontinuierlich fallen. Die Kosten erneuerbarer Energien sind in den letzten 20 Jahren massiv gesunken. Genauso wird es auch bei Wasserstoff, Elektromobilität oder Batterien sein, sobald das Energiesystem umgestellt ist. Das zeigen unsere Modellierungen. Und da haben wir die aktuellen Kosten der Klimaschäden noch nicht einmal mit eingerechnet. Fakt ist: Ein auf erneuerbare Energien und Energiesparen ausgerichtetes Energiesystem lohnt sich vierfach – sicherheitstechnisch, geopolitisch, ökologisch und ökonomisch.

Ausgezeichnet: Kopenhagen gilt als eine der fahrradfreundlichsten Städte.

Foto: dpa/Picture Alliance

Gibt es ein Land, das beim Thema Energiewende als Vorbild für Deutschland, Europa oder gar die Welt dienen könnte?

Dänemark ist uns seit Jahrzehnten weit voraus.

Was läuft dort richtig?

Die Dänen haben sehr früh begonnen, die erneuerbaren Energien auszubauen. Vor allen Dingen haben sie die dezentralen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen auf erneuerbare Energien umgestellt, um so auch die Nah- und Fernwärmenetze nachhaltig zu gestalten. Außerdem läuten sie durch eine konsequente Verkehrswende das Ende des Ölzeitalters ein. Kopenhagen beispielsweise ist eine unglaublich attraktive Fahrradstadt. Dänemark hat sehr viel richtig gemacht. Von denen sollten wir uns einiges abschauen, um es noch besser zu machen.

Welche Hebel haben Verbraucherinnen und Verbraucher, um die Energiewende zu befördern?

Im Alltag können wir ganz grundsätzlich Ökostrom beziehen, energiesparende Geräte kaufen, Wohnung oder Haus energetisch sanieren oder auch durch die eigene Mobilität zur Energiewende beitragen. Wer zu Fuß, mit dem Rad, der Bahn oder dem Elektromobil unterwegs ist, tut gleichzeitig etwas für die Energiewende.

Und bei der Vermögensbildung?

Alle, die die Möglichkeiten haben, auf Anlageformen zu schauen, sollten dies tun. Und zwar auf echte Nachhaltigkeit achten, wo die ESG-Kriterien streng und ernsthaft umgesetzt werden.

Also ökologische, soziale und Kriterien der guten Geschäftsführung?

Ja. Es gibt mittlerweile sehr viele nachhaltige Fonds und Anlagemöglichkeiten – und ein Bewusstsein, um aktiv mitzugestalten.

Wie handeln Sie selbst, um als Privatverbraucherin die Energiewende zu befördern?

Durch all mein Handeln bin ich aktiver Teil der Energiewende, nicht nur, weil ich mich an Bürgerenergieprojekten beteilige. Ich nutze zudem energiesparende Geräte, kaufe nachhaltige Kleidung und Bioprodukte und fahre ausschließlich Fahrrad oder Bahn. Unvermeidbare Emissionen kompensiere ich über echte Klimaschutzspenden und zwar mit einem Preis von 190 Euro pro Tonne CO2. Dies ist zwar immer noch nicht der wahre CO2-Preis, aber näher an den wahren Kosten der Klimaschäden.

Klingt wie die ultimativ-nachhaltige Geschenkidee.

In der Tat! Durch Spenden in den Klimaschutz kompensiere ich nicht nur meinen eigenen Fußabdruck, sondern den der gesamten erweiterten Familie. Jeder kann zum Geburtstag oder zu Weihnachten Klimaschutzprojekte verschenken. Dies vermeidet die Gefahr, etwas Unpassendes zu schenken, und schafft gleichzeitig effektiven Klimaschutz. Win-win auf allen Seiten.
Claudia Kemfert leitet seit 2004 die Abteilung „Energie, Verkehr, Umwelt“ am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Die gebürtige Delmenhorsterin ist zudem Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität. Als Gutachterin und Politikberaterin ist und war Kemfert in verschiedenen Nachhaltigkeitsbeiräten und Kommissionen tätig, so etwa dem Sachverständigenrat für Umweltfragen, dem Klimabeirat der Städte Hamburg und Dresden oder im Rahmen der High Level Group on Energy and Climate als Beraterin des damaligen EU-Kommissionspräsidenten Barroso. Kemfert hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten und in Italien, Spanien, Russland und Deutschland in Forschung und Lehre gearbeitet.