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„Kursrückgänge zum Einstieg genutzt“
Christine Bortenlänger liegt die Aktie am Herzen. Im Interview spricht die Geschäftsführende Vorständin des Deutschen Aktieninstituts über ihre Freude, dass immer mehr Deutsche mit dem Aktiensparen begonnen haben, warum Schweden eine Vorbildfunktion für die Akzeptanz von Wertpapieren in das Rentensystem haben könnte und warum sie ein Anlagesparkonto einführen möchte.
Frau Bortenlänger, die Zahl der Menschen in Deutschland, die in Aktien oder Aktienfonds investieren, ist im vergangenen Jahr – also trotz Pandemie und Ukrainekrieg – auf eine neue Rekordmarke gestiegen. Aber wird der Aufwärtstrend auch anhalten, jetzt, wo die Menschen wegen der hohen Inflation mehr Geld für ihren Konsum ausgeben müssen?
Das wünsche ich mir. In 2022 haben über 800.000 Menschen in Deutschland die Aktie neu für sich entdeckt. Seit 2010 sind es sogar 4,5 Millionen. Die neuen Anlegerinnen und Anleger verfolgen ganz überwiegend langfristige Sparziele. Warum sollten sie da ihre Entscheidung wegen kurzfristiger Veränderungen gleich infrage stellen? Meines Erachtens war der starke Kurseinbruch im vergangenen Jahr eine echte Nagelprobe. Da kann ich nur sagen: Die haben die Anlegerinnen und Anleger mit Bravour gemeistert!
Sind die Deutschen dabei, eine wirklich verbreitete Aktienkultur zu entwickeln, so wie das zum Beispiel in den USA und Großbritannien der Fall ist?
Wir sind da optimistisch. Die Anlegerinnen und Anleger haben dazugelernt und sind gelassen geblieben. Kursrückgänge wurden von vielen zum Einstieg genutzt. Trotzdem ist noch Luft nach oben. In Deutschland haben Aktien in Politik und Gesellschaft nicht den gleichen Stellenwert wie in den USA, Großbritannien oder auch in Schweden.
Was gibt es auf dem Weg dahin noch zu verbessern? Welche Initiativen könnten helfen?
Schweden macht es ganz gut vor: Hier wurde die Aktie in die gesetzliche Altersvorsorge einbezogen. Das Rentensystem ist so leistungsfähiger geworden und weite Teile der Bevölkerung profitieren von attraktiven Aktienrenditen. In den Ländern, die wie Schweden ihre Rentensysteme mit Aktien gestärkt haben, gibt es große Pensionsfonds, die ihre Gelder auch in Aktien anlegen. Dieses Kapital steht damit Unternehmen für die Finanzierung von Forschung und Entwicklung, Innovationen und letztlich Arbeitsplätzen von morgen zur Verfügung. Diese Finanzierungsseite des Kapitalmarktes gehört zu einer guten Aktienkultur dazu.
Nie sparten mehr Menschen in Deutschland mit Aktien
Grafik: KD 1
Viele Ökonomen bemängeln, dass sich die Bürgerinnen und Bürger trotz des Drei-Säulen-Modells mit betrieblicher und privater Altersvorsorge alleine auf die Säule verlassen, die unser staatliches Rentensystem bietet. Wird das Vorhaben der Ampelregierung – eine Aktienrente – die Wende bringen?
Mit dem Generationenkapital, wie die Aktienrente jetzt genannt wird, steigt die Politik bei der gesetzlichen Rente in eine aktienorientierte Altersvorsorge ein. Das ist ein richtiger und wichtiger Schritt, den wir als Deutschen Aktieninstituts sehr begrüßen. Damit das Generationenkapital auch dazu beiträgt, die finanziellen Lasten des Rentensystems abzufedern, darf es aber nicht bei einer Einmalanlage von 10 Milliarden Euro bleiben. Das wird schon dadurch deutlich, dass jährlich rund 100 Milliarden – also das Zehnfache – aus dem Bundeshaushalt in die Rentenkasse fließt, um die Lücke auszugleichen.
Was sollte die Politik darüber hinaus unternehmen, um das Aktiensparen zu fördern?
Wir schlagen die Einführung eines Anlagesparkontos vor. Statt eines angedachten Steuerfreibetrags auf Veräußerungsgewinne können die Menschen auf einem solchen Konto jährlich einen bestimmten Betrag in Aktien und Aktienfonds anlegen. Alle Erträge, die auf diese Ersparnisse anfallen, sind steuerfrei. Ein solches Anlagesparkonto besticht durch sein einfaches Konzept. Das fördert das Aktiensparen. Deshalb nutzen zahlreiche andere europäische Länder wie Frankreich, Großbritannien oder auch Italien Anlagesparkonten bereits mit großem Erfolg.
Auch über die digitale und klimatische Transformation wird derzeit viel diskutiert. Sollten die Finanzmärkte und insbesondere die organisierten Börsen eine stärkere Rolle als Treiber spielen? Und sind die Börsen auch selbst fit genug für mehr Nachhaltigkeit und Digitalisierung?
Allein um die CO2-Emissionen der EU bis 2050 auf null zu bringen, braucht es nach Schätzungen der EU-Kommission in den kommenden zehn Jahren zusätzliche Investitionen in Höhe von rund 260 Milliarden Euro pro Jahr. Das kann die Staatengemeinschaft alleine nicht leisten. Es braucht deshalb effiziente und leistungsstarke Kapitalmärkte, über die sich Unternehmen finanzieren können, um die Transformation zu stemmen. Börsen sind Teil dieser Finanzmärkte und natürlich auch gefordert, mit der Herausforderung umzugehen. Klar ist aber, dass nur die Politik den Rahmen setzen kann – mit entsprechender Gesetzgebung und Regulierung. Hier sehe ich die größte Herausforderung. Hier ist Handlungsbedarf. Das Deutsche Aktieninstitut unterstützt jede politische Initiative, die die Kapitalmärkte in Deutschland und Europa stärker macht. Dann fließt automatisch auch viel Geld in Transformationsprojekte.
Die Einhaltung von Regeln und Vorschriften ist eine Grundbedingung für den Erfolg eines Unternehmens. Inzwischen müssen jedoch die Emittenten umfassende Transparenz- und Compliance-Pflichten erfüllen – und immer neue kommen dazu. Wird hier nicht zu viel des Guten getan, wenn gerade kleinere und mittlere börsennotierte AGs kaum und nur mit vergleichsweise sehr hohen Kosten in der Lage sind, diese Auflagen zu erfüllen?
Definitiv wirken die Intensität und Detailfülle der Regulierung für die Unternehmen an der Börse mittlerweile abschreckend – und das nicht nur für kleinere und mittlere Emittenten. Regulierung muss die Investoren schützen, ohne die Unternehmen übermäßig mit Bürokratie und Rechtsrisiken zu belasten. Die EU-Kommission will mit dem geplanten EU Listing Act jetzt gegensteuern, um die Attraktivität der Börsennotiz zu erhöhen. Das ist überfällig. Die Initiative muss eine echte Entlastung von Bürokratie und Rechtsrisiken für die Unternehmen bringen und darf nicht zu einem Feigenblatt verkommen.
Droht ein Exodus deutscher Konzerne nach dem Vorbild von Linde?
Nein, Linde wurde nach der Fusion mit Praxair zu einem deutsch-amerikanischen Konzern, dessen Aktien zum größten Teil in New York gehandelt werden. Linde ist ein spezieller Fall. Nachdenklich macht mich aber die im internationalen Vergleich niedrige Zahl der Börsengänge in Deutschland und die Tatsache, dass zahlreiche Wachstumsunternehmen wie Biontech nicht in Deutschland an die Börse gegangen sind, sondern in den USA. Die Gründe sind vielfältig und überwiegend mit politischen Maßnahmen zu lösen: Die Rahmenbedingungen für den Börsengang und die Börsennotiz müssen attraktiver, also weniger bürokratisch, das Aktiengesetz soll flexibler werden. Der wohl größte Hebel ist jedoch: Die Aktie muss eine feste Rolle im Rentensystem bekommen. Dann stünde den Emittenten endlich auch mehr Kapital zur Verfügung. Das Ergebnis wäre insgesamt ein breiterer und tieferer deutscher und europäischer Kapitalmarkt – kurz gesagt: ein attraktiver Kapitalmarkt.
„Generation Aktie“ zeigt, wie es geht
Grafik: KD 1
Hat sich die Aufstockung beim Dax auf 40 Titel bewährt?
Die Aufstockung vor einem Jahr war eine Frischzellenkur für den Dax. Zu den etablierten Automobil-, Chemie- und Finanz-Unternehmen sind andere Branchen und jüngere Unternehmen hinzugekommen. Insgesamt spiegelt der Dax 40 die deutsche Unternehmenslandschaft besser wider. Außerdem entspricht der vergrößerte Dax mit seinen 40 Unternehmen anderen europäischen Indizes, wie denen in Frankreich und Italien. Der Leitindex in Großbritannien umfasst sogar 100 Unternehmen.
Wie wichtig ist es, junge Menschen an das Thema Aktien heranzuführen, und wie gelingt es am besten?
Finanzielle Bildung ist sehr wichtig. Sie ist Teil einer umfassenden Vorbereitung junger Menschen auf die Herausforderungen, die ihnen in Zukunft begegnen werden. Sie gehört schlicht zu guter Allgemeinbildung dazu. Wer diese Kompetenz besitzt, trifft bessere Spar-, Anlage- und Versicherungsentscheidungen. Die bundesweite Einführung eines Schulfachs Ökonomie, für das sich das Deutsche Aktieninstitut seit vielen Jahren einsetzt, ist überfällig.
Zur Person
Dr. Christine Bortenlänger ist seit September 2012 Geschäftsführende Vorständin des Deutschen Aktieninstituts. Davor war sie ab 2000 Vorstand der Bayerische Börse AG und Geschäftsführerin der öffentlich-rechtlichen Börse München. Bortenlänger ist Aufsichtsratsmitglied bei Covestro, MTU Aero Engines, Siemens Energy und TÜV Süd sowie Mitglied des Börsenrates der Frankfurter Wertpapierbörse. Ehrenamtlich ist sie u. a. aktiv im Verwaltungsrat des ifo Instituts, im Beirat der Schmalenbach-Gesellschaft, im Vorstand von UNICEF Deutschland und als Mitglied des geschäftsführenden Präsidiums des Wirtschaftsbeirats Bayern.
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