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„Europa ist ins Handeln gekommen“
Wettbewerbsökonom Jens Südekum über die Transformation der deutschen Wirtschaft, die Wirkung des Gaspreisdeckels und das neue Verhältnis von Staat und Markt.
Wie lautet Ihre aktuelle Zustandsbeschreibung der deutschen Wirtschaft?
Mit Blick auf die Energiepreise für die Industrie: dramatisch. Hätte der Staat jetzt nicht den Gaspreisdeckel auf den Weg gebracht, stünden wir vor einer Deindustriealisierung ohnegleichen. Der Doppelwumms war dringend nötig. Wir stehen am Beginn einer schweren Rezession. Ohne Gaspreisdeckel wäre das voll durchgeschlagen. Der Mittelstand hätte in die Röhre geschaut, viele Großkonzerne hätten ihre Produktion verlagert, die Folgen für die Wirtschaft wären nicht wieder gutzumachen gewesen. Diese Gefahren sind jetzt zwar nicht weg, aber sie sind geringer geworden.
Energie ist wichtig, aber in letzter Konsequenz doch nur ein Produktionsmittel von mehreren. Glauben Sie, dass die Energiepreise so dramatische Auswirkungen auf die Produktion haben?
Stimmt, Energie ist nur ein Produktionsfaktor, aber es ist ein wichtiges Element in einem ganzen Bündel. Europa hat schon mehrere Probleme: Ich nenne nur den Fachkräftemangel und die Demografie, die zu einer immer älteren Bevölkerung führt. Wenn es dann Standorte gibt, an denen die demografischen Voraussetzungen besser und die Energiepreise niedriger sind, dann haben diese klare Vorteile. Deshalb musste Europa jetzt handeln.
Jetzt loben Sie den Gaspreisdeckel, letztlich ist das aber eine steuerfinanzierte Staatsausgabe, die ihresgleichen sucht. Ist das so toll?
Es ist sicher nicht optimal gelaufen. Letztlich musste es in Windeseile gehen, und die Regierung hat erst einmal 200 Milliarden Euro ins Schaufenster gestellt, ohne zu erklären, wie die im Detail helfen sollen. In der Rückschau hätte vieles früher passieren sollen. Es war ja schon im Februar absehbar, dass wir in eine Energiekrise schlittern. Schon damals gab es Vorschläge, wie gleichzeitig Gaspreise gedeckelt und Einsparanreize gefördert werden können, aber die wurden von der Politik ignoriert. Der Winter schien weit weg. Auf der Angebotsseite lief es besser. Hier hat die Bundesregierung in kürzester Zeit viel bewegt. Die Flüssiggas-Terminals zum Beispiel gehen 2023 ans Netz, das war eine riesige Leistung. Aber die Nachfrageseite wurde sträflich vernachlässigt, und jetzt musste da alles übers Knie gebrochen werden.
Landet unser Steuergeld als Zusatzgewinn bei den Mineralölkonzernen?
Das lässt sich ganz nüchtern beschreiben: Wenn ein Lieferant ausfällt, gewinnen andere. Russland fällt aus, also werden die anderen gut kassieren. Gaslieferanten aus Norwegen und den USA verdienen sich gerade eine goldene Nase, und an sie kommt man auch mit einer Übergewinnsteuer nicht ran. Bei ihnen wird auch das Geld aus dem Gaspreisdeckel letztendlich landen. Wichtig ist jetzt, dass der Preisdeckel so gestrickt ist, dass nicht nur Energie bezahlbar bleibt, sondern auch Sparanreize gesetzt werden. Wir brauchen 20 Prozent Einsparleistung. Je mehr wir einsparen, desto geringer ist die Rezession und desto weniger Geld fließt ins Ausland ab.
Trotz Gaspreisbremse gehen Sie von einer Rezession aus. Wie lange dauert die Krise?
Verlassen kann man sich auf nichts in diesen Zeiten. Es kann viel passieren. Es könnten Sabotageakte auf die Infrastruktur folgen. Die Gasspeicher könnten schneller leerlaufen bei einem kalten Winter. Optimistisch stimmt mich aber, dass auf den Großmärkten der Gaspreis schon wieder sinkt. Vor dem Krieg lag er bei 20 Euro pro Megawattstunde Gas, dann ist er auf 350 hochgeschossen, jetzt liegt er wieder bei 150. Putin hat sein Pulver in dieser Hinsicht verschossen. Seit der Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines kann er nicht mehr so viel Verunsicherung in den Märkten stiften. Und bis zum Sommer 2024 wird nach dem Willen der EU überhaupt kein Gas mehr aus Russland angenommen. Dafür gibt es neue Lieferanten. Deswegen sehen alle Projektionen für das nächste und übernächste Jahr sinkende Gas- und Strompreise voraus …
… aber doch nicht aufs alte Niveau. Flüssiggas über die Weltmeere zu transportieren ist schließlich aufwendiger, als es durch eine Röhre zu leiten.
Das Niveau der Preise ist nicht klar. Es könnte sich bei 50 Euro pro Megawattstunde Gas einpendeln. Das ist zwar deutlich mehr als vor der Krise, aber damit kämen viele Unternehmen zurecht. Die jetzige Dramatik bei den Energiepreisen wird sich wahrscheinlich zurückentwickeln. Und damit wird sich auch die Inflation zurückbilden. Wir müssen vielleicht zwei Jahre durchstehen.
Wir brauchen jetzt aber eine Wirtschaft, die von fossiler Energie weniger abhängig ist. Kann die Transformation gelingen?
Ich warne vor allzu pessimistischen Szenarien. Der Abgesang auf die deutsche Industrie ist schnell erzählt: Sie hat billige Energie aus Russland bekommen, damit produziert und ihre Waren in China verkauft. Das eine ist vorbei, das andere könnte auch eher früher als später vorbei sein, und das Wirtschaftsmodell Deutschland wäre damit erledigt. Aber es gibt ein optimistisches Szenario, und das sieht so aus: So wie Corona ein Booster für die Digitalisierung war, ist der Krieg ein Booster für die Energiewende, denn es ist die notwendige Konsequenz. Fossile Energiepreise verlieren an Relevanz. Der Vorteil: Europa ist dabei schon ins Handeln gekommen, während andere mehrheitlich nur darüber reden.
Wir sind doch weit weg von der Energiewende, nur 17 Prozent des Primärenergiebedarfs kommen aus Erneuerbaren.
Bei der Stromerzeugung sieht es weit besser aus. Aber klar, wir brauchen beim Ausbau der Erneuerbaren jetzt noch viel mehr Tempo. Denn was ist die Alternative? Das europäische Industriemodell kann nur überleben, wenn wir nicht nostalgisch an der Vergangenheit kleben, sondern als Erste in der Zukunft ankommen. Leider besteht die Brückentechnologie jetzt aus teurerem Flüssiggas. Aber das kann ja auch ein Anreiz sein, diese Brücke noch schneller hinter sich zu lassen.
Trifft es Deutschland härter als andere EU-Länder?
Ja. Deutschland hat den höchsten Industrieanteil in Europa und damit den höchsten Energiebedarf. Und wir hatten eine höhere Abhängigkeit von Russland.
Und sind aus der Atomkraft ausgestiegen.
Das war die falsche Reihenfolge. Wir hätten erst aus der Kohle und dann aus der Atomkraft aussteigen sollen. Inzwischen ist der Beitrag der Atomenergie in Deutschland aber nicht mehr nennenswert. Der Streit darum ist mehr ein politisches Symbol.
Wie steht es um die europäische Solidarität?
Ohne europäische Solidarität kommen wir nicht durch diese Krise. Die Forderung der Linken, Stromexporte nach Frankreich zu beenden, um selbst mehr Gas zu haben, sind deshalb brandgefährlich: Wenn der Winter kalt wird, könnte Deutschland plötzlich auf Gas aus anderen EU-Ländern angewiesen sein.
Kann Deutschland sich die Unterstützung der Menschen, die Gas verbrauchen, überhaupt leisten? Auch mit Blick auf die Zinsen, die wir für Kredite zahlen?
Wir müssen es uns leisten. Die Kosten des Handelns sind hoch, aber die Kosten des Nichthandelns wären ungleich höher. Es wäre eine echte soziale Katastrophe. Ich möchte mir die politischen Konsequenzen gar nicht ausmalen, wenn es jetzt keinen Gaspreisdeckel gegeben hätte. Aber wir können es uns auch leisten. Die Zinsreaktionen bei Bundesanleihen waren bescheiden. Das signalisiert, dass die Märkte es uns zutrauen.
Was ist mit der Schuldenbremse?
Die Schuldenbremse ist nur noch eine Fassade. Wann immer der Staat in einer Krise Geld braucht, ob für die Bundeswehr oder für den Gasmarkt, findet er einen Weg. Trotzdem hat sie ihr Gutes: Denn immerhin wird nicht Geld aufgenommen und einfach in den Haushalt gepumpt, sondern es wird gezielt Geld für den Wirtschaftsstabilisierungsfonds aufgenommen und verwendet. Das ist ein ganz guter Kompromiss.
Wie soll der Weg zurück aus diesen ganzen Hilfspaketen aussehen?
Erst mal sind wir auf dem Hinweg. Ich rechne damit, dass es demnächst auch Handelssanktionen gegen China geben könnte. Dann werden die nächsten Unternehmen ins Wanken kommen und nach staatlicher Hilfe rufen. Der Staat wird in Zukunft eine wichtigere Rolle spielen als früher, weil die Unsicherheiten größer geworden sind. Verhindern lässt sich das wohl nicht. Aber ich glaube, dass der Staat in seinen Entscheidungen insgesamt besser werden und stärker im Einklang mit dem Markt stehen kann. Zum Beispiel: Bei den großen Investitionen für die Transformation müssen Staat und private Wirtschaft Kosten und Risiken sinnvoll aufteilen. So kann durch staatliches Handeln privates Kapital gelenkt werden.
Wie sieht Deutschland aus, wenn die Transformation abgeschlossen ist?
Hoffentlich wird es ein Land, das bei nachhaltigen Geschäftsmodellen international ganz weit vorne steht, denn zukünftig wird nur noch mit solchen Geschäftsmodellen Geld verdient. Und es muss ein Land werden, das sein Demografieproblem in den Griff bekommt. Die einzige Lösung, die ich da sehe, ist mehr Zuwanderung von Fachkräften.
Aus Anlegerperspektive: Wo sehen Sie die langfristigen Gewinner und Verlierer?
VWL-Professoren sollten besser keine Anlagetipps geben.
ZUR PERSONProf. Dr. Jens Südekum ist Universitätsprofessor für Internationale Volkswirtschaftslehre am Düsseldorfer Institut für Wettbewerbsökonomie (DICE) an der Heinrich-Heine-Universität. In seiner Forschung befasst er sich mit den Arbeitsmarkteffekten von Globalisierung und Digitalisierung sowie mit internationalem Handel, Stadtökonomik und Regionalpolitik. Südekum war unter anderem als Berater für internationale Institutionen wie die EU-Kommission, den Internationalen Währungsfonds und die Welthandelsorganisation tätig. Er ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie und ein enger Berater der Bundesregierung und verschiedener Parteien in wirtschaftspolitischen Fragen. Zudem ist Jens Südekum Research Fellow beim Center for Economic Policy Research (CEPR) in London, dem CESifo Institut in München, dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg und beim Institute of Labor Economics (IZA) in Bonn.
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