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Neue Therapien gegen Volkskrankheiten
Der demografische Wandel und der Wunsch nach einem guten Leben auch im Alter machen Gesundheit zu einem nachhaltigen Wachstumsmarkt – und für Anlegerinnen und Anleger interessant.
Ein Hochzeitspaar wie Bernie Littman und Marjorie Fiterman findet man nicht alle Tage. Rabbi Adam Wohlberg traute die beiden im Mai unter der Chuppa, dem traditionellen Hochzeitstuch, in einem Altersheim in Philadelphia im US-Bundesstaat Pennsylvania. Der Bräutigam ist stolze 100 Jahre alt, seine Braut bringt zwei Lenze mehr mit in die Ehe. Damit dürften die rüstigen Senioren das älteste Paar sein, das sich jemals das Jawort gegeben hat.
Dass Menschen mit über 80 Jahren den Bund der Ehe eingehen, wird wohl auch in Zukunft eher die Ausnahme als die Regel sein. Aber die Zahl der Silver Ager, die ihr spätes Glück noch einmal beim Schopfe packen, dürfte statistisch gesehen in den kommenden Jahrzehnten dennoch steigen. In Deutschland beispielsweise hat nach Angaben des Statistischen Bundesamtes jedes fünfte heute geborene Mädchen und jeder sechste Junge gute Chancen, 100 Jahre alt zu werden. Gesunde Ernährung, verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen und steigender Wohlstand sind Faktoren, die die Aussichten auf ein gutes Leben bis ins hohe Alter verbessern.
Foto: Sarah Sicherman; Titelfoto: Shutterstock / Gorodenkoff
Liebe kennt kein Alter: Bernie Littman (100 Jahre) und Marjorie Fiterman (102) gaben sich im Mai in einem Altersheim in Philadelphia das Ja-Wort.
Ein entscheidender Faktor sind die rasanten Fortschritte in der medizinischen Versorgung. Mit steigendem Wohlstand haben immer mehr Menschen Zugang auch zu kostenintensiven Therapien – nicht nur in den Industrieländern, sondern selbst in den Schwellenländern. „Getrieben durch Innovationen und den demografischen Wandel wird Gesundheit zu einem strukturell stabilen Wachstumsmarkt mit verlässlichen Ertragsperspektiven“, ist Florian Pfeilschifter, Pharmaexperte und Fondsmanager bei der Deka, überzeugt.
Künstliche Intelligenz, Robotik und Big Data ebnen den Weg für neue Diagnose- und Behandlungsmethoden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten mit Hochdruck an gen- und zellbasierten Verfahren, die der Medizin neue Therapieansätze und Anwendungsmöglichkeiten im Kampf gegen schwere Krankheiten wie Krebs und Herzinfarkt eröffnen. David Matusiewicz, Professor für Medizinmanagement an der FOM Hochschule in Essen, prognostiziert, dass die neuen Technologien das gesamte Gesundheitswesen exponentiell voranbringen werden. „Sie werden alle Unternehmen in diesem Bereich verändern, effizienter und besser machen“, sagt er.
Abnehmspritze löst einen Boom aus
Fettleibigkeit und Diabetes sind für Matusiewicz gute Beispiele dafür, dass gerade in einer alternden Gesellschaft die medizinische Versorgung immer teurer wird. Nach Berechnungen der Universität Hamburg belaufen sich die gesamtgesellschaftlichen Kosten der Adipositas allein in Deutschland – alle direkten und indirekten Kosten zusammengerechnet – auf rund 63 Milliarden Euro pro Jahr. Nach einer Modellrechnung der OECD werden im Durchschnitt der OECD-Länder bis 2050 etwa 8 Prozent der Gesundheitsausgaben für die Behandlung von Adipositas-Krankheiten aufgewendet werden.
Die „Zivilisationskrankheit“ zeigt aber auch beispielhaft, welche Chancen der Gesundheitsmarkt für Unternehmen bietet. Die Nachfrage nach dem neuen Präparat „Ozempic“, das ursprünglich gegen Diabetes entwickelt wurde, als „Wegovy“ aber auch gegen Fettleibigkeit eingesetzt wird, ist inzwischen so groß, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte im Frühjahr offiziell vor Lieferengpässen warnen musste.
Der reißende Absatz von Ozempic und dem Schwesterprodukt katapultiert derweil die Geschäftszahlen des Herstellers Novo Nordisk in die Höhe. Der dänische Pharmakonzern meldete für das erste Quartal einen Nettogewinn von rund 3,3 Milliarden Euro nach 2,5 Milliarden Euro im Vorjahreszeitraum. Die Umsätze mit beiden Präparaten stiegen im Vergleich um 25 Prozent. An der Börse avancierte Novo Nordisk zum wertvollsten Unternehmen Europas. Dass auch der US-Konkurrent Eli Lilly ein vergleichbares Medikament auf den Markt gebracht hat, stört die Anlegerinnen und Anleger bislang nicht. An der Börse zeigt der Kurstrend beider Aktien nach oben.
Das nächste „große Ding“ in der klinischen Pharmaforschung sind die Gen- und Zelltherapien. Sie haben nach Expertenmeinung das Potenzial, schwere Krankheiten wie Krebs und hartnäckige Virusinfektionen erfolgreich zu behandeln. Im vergangenen Jahr gelang es einem Ärzteteam am Universitätsklinikum Düsseldorf, einen Patienten mit Leukämie und einer HIV-Infektion durch eine Stammzelltransplantation zu heilen.
Expertinnen und Experten der Unternehmensberatung Roland Berger kommen in einer Studie zu dem Schluss, dass Gen- und Zelltherapien einen „radikalen Wandel“ in der Pharma- und Biotech-Industrie einleiten. „Zell- und Gentherapien haben nicht nur ein enormes Potenzial, Leben zu retten, sondern auch ein großes wirtschaftliches Potenzial“, betont Thilo Kaltenbach, Senior Partner bei Roland Berger und einer der Autoren der Studie. Seiner Einschätzung nach wird der Markt für diese Therapien rasant wachsen und bis 2026 einen Umsatz von 27,9 Milliarden Euro erreichen.
Wie Gen- und Zelltherapien wirken
Beide Therapieformen zielen, vereinfacht gesagt, darauf ab, durch Eingriffe in die kleinsten biologischen Strukturen des Körpers degenerative Veränderungsprozesse aufzuhalten oder gar nicht erst entstehen zu lassen. Ein Ansatzpunkt: die körpereigenen Gene. Sie sind sozusagen die Architekten des menschlichen Körpers. Ihre DNA enthält den individuellen „Bauplan“ eines jeden Menschen. Krankheiten wie Trisonomie 21 („Down-Syndrom“) oder Mukoviszidose entstehen durch unerwünschte Mutationen eines Gens und müssen bei entsprechend schwerem Verlauf lebenslang behandelt werden. Neuere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass auch bestimmte Formen der Demenz auf genetische Veränderungen zurückzuführen sind. Allein hier eröffnet sich für Pharma- und Biotechnologieunternehmen ein Milliardenmarkt, wenn es gelingt, Therapien zu entwickeln, die den Krankheitsverlauf verlangsamen oder sogar stoppen können. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) könnten im Jahr 2050 weltweit 139 Millionen Menschen an Demenz leiden.
Grafik: KD1
Bei der Gentherapie wird die DNA im Labor dabei so verändert, dass das Gen wieder wie ursprünglich „funktioniert“. Mithilfe von Nanopartikeln wird der Baustein dann wieder in den Körper eingeschleust und dort von Zelle zu Zelle weitergegeben. Das Verfahren ist komplex. Aber das potenzielle Anwendungsspektrum ist groß.
Zell- und Immuntherapien hingegen gelten unter Experten als wirksame Waffe im Kampf gegen Krebs. Krebs ist nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Todesursache in der westlichen Welt. Allein in Deutschland sterben jährlich rund 240.000 Menschen an bösartigen Tumoren.
Zelltherapien sind derzeit noch ein „Zukunftsversprechen“, sagt Marion Subklewe, Professorin am Laboratory for Translational Cancer Immunology der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dem Patienten wird Blut abgenommen, die Zellen werden im Labor genetisch verändert, und nach einer Produktionszeit von drei bis vier Wochen erhält der Patient seine Zellen mit einer einzigen Infusion zurück. Damit ist die eigentliche Behandlung abgeschlossen. Eingesetzt werden die verschiedenen Zelltherapeutika vor allem bei Leukämien. Dort sind die Ergebnisse laut Subklewe „gelinde gesagt beeindruckend“. „Unsere Studie hat gezeigt, dass wir fünf von zehn Patienten mit Blutkrebs heilen konnten“, sagt die Krebsexpertin. Bei der etablierten Chemotherapie waren es nach ihren Angaben sieben Prozent der Patienten, bei denen eine Besserung, aber keine Heilung erreicht werden konnte. Auch beim Multiplen Myelom, einer seltenen Krebserkrankung, sieht sie Fortschritte: „Heilung sehen wir noch nicht. Aber wir erkennen, dass wir mit der Einmaltherapie die Ergebnisse deutlich verbessern können.“
Studienergebnisse des US-Unternehmens Moderna haben zudem gezeigt, dass sich das Sterberisiko bei Hautkrebs durch die hauseigene Krebstherapie halbieren lässt – wenn sie mit einer zusätzlichen Immuntherapie kombiniert wird. Ein neuartiger Wirkstoff auf Basis der mRNA-Technologie, die der Pharmakonzern bereits bei seinem Impfstoff gegen Corona einsetzt, soll nun einen weiteren Durchbruch bringen. „Es besteht eine ernsthafte Chance, die meisten soliden Tumore mit der mRNA-Technologie zu bekämpfen“, sagte Moderna-Chef Stéphane Bancel bei der öffentlichen Vorstellung der Therapie.
Aus Forschungsmisserfolgen lernen
Neben Moderna sind auch andere börsennotierte Pharmakonzerne wie Roche, Johnson&Johnson und Eli Lilly auf dem zukunftsträchtigen Forschungsfeld der Gen- und Zelltherapien aktiv. Sie haben entsprechende Präparate bereits auf dem Markt oder befinden sich in der Entwicklung in sogenannten Phase-3-Studien.
Doch gerade dieser letzte Schritt vor der Zulassung durch die Gesundheitsbehörden erweist sich oft als größte Hürde für die Forschungsabteilungen der Unternehmen. Aus einem potenziellen Blockbuster mit Milliardenumsätzen kann über Nacht ein teurer Flop werden. Bei Bayer etwa zeigten die Studienergebnisse, dass Asundexian, ein Mittel gegen Vorhofflimmern und zur Senkung des Schlaganfallrisikos, nicht so wirksam war wie erhofft. Die Entwicklung wurde daher eingestellt. Bei Biontech kam es vor wenigen Wochen in einer Studie mit einem Krebsmedikament zu Todesfällen. Die US-Gesundheitsbehörde hat deshalb zunächst einen Stopp verfügt. Bevor es weitergeht, müssen die Todesfälle aufgeklärt werden.
„Rückschläge gehören in der Pharmaforschung dazu. Erfahrungsgemäß schaffen nur 60 bis 70 Prozent neu entwickelter Präparate den Sprung von der Phase 3 zur Marktzulassung“, sagt Pfeilschifter. „Ein Misserfolg bedeutet aber nicht, dass die Wirksamkeit bestimmter Therapieansätze, etwa im Gen- oder Zellbereich, insgesamt infrage gestellt wird. Fast immer ergeben sich wertvolle Erkenntnisse, die in Weiterentwicklungen einfließen.“
Gen- und Zelltherapien sind nicht nur wegen des hohen Forschungsaufwands vergleichsweise teuer. Auch das komplexe Anwendungsverfahren schlägt sich in den Kosten nieder. Die Behandlungskosten gehen pro Patienten schnell in den sechsstelligen Bereich. Dem steht die lebensrettende Wirkung gegenüber. Im besten Fall reicht ein Piks – und der Krebs hat seinen Schrecken verloren
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